Mystik

Mystik
   (griech. = die Lehre vom Verborgenen) ist ein Begriff für die innerliche, vorübergehende Erfahrung einer einenden Begegnung eines Menschen mit der ihn u. alles Seiende begründenden göttlichen Unendlichkeit (in Judentum, Christentum u. Islam mit dem Du des persönlichen Gottes), u. auch ein Begriff für die wissenschaftliche Reflexion u. Interpretation dieser Erfahrung (also für die M. als theol. Lehre). Für biblische Bezüge: Brautmystik, Christusmystik, Logosmystik, Leidensmystik.
   1. Geschichtliches zur christlichen M. Die Anfänge einer eigentlichen christlichen M. sind mit dem frühen Mönchtum u. seiner Praxis u. Lehre der Kontemplation gegeben. Bei Ps.-Dionysios Areopagites (um 500) gilt die ”mystische Theologie“ dem Nachdenken über die ”mystische Einigung“ u. dem Stufenweg zu ihr über Läuterung u. Erleuchtung. Als erster bedeutender Systematiker der M. wird Origenes († um 253) genannt, der mit besonderer Berücksichtigung des Hohenlieds die Jesusbegegnung des einzelnenMenschen nach dem Vorbild der Liebe Jesu zu seiner Kirche zeichnete. Wichtige Mystiker der östlichen Kirche waren im 4. Jh. Euagrios Pontikos, Makarios der Ägypter, Gregor von Nyssa (mit seiner Lehre von der nie, auch im Himmel, nicht endenden ”mystischen Suche“), im 10. u. 11. Jh. Simeon der Neue Theologe (Hesychasmus). In der westlichen Kirche gelten Ambrosius († 397) mit seinen Hohelied-Katechesen u. Augustinus († 430) mit seinen Beschreibungen eigener mystischer Erfahrungen als grundlegend für die spätere mystische Theologie. In der klösterlichen M. sind persönlichste Erfahrungen mit theol. Reflexionen verbunden (in der Frauenmystik trat Hildegard von Bingen † 1179 besonders hervor, bei den Zisterziensern sind vor allem Bernhard von Clairvaux † 1153 u. Wilhelm von St. Thierry †1148 zu nennen). Durch die ”Bettelorden“ wurde der exklusive u. esoterische Zug der klösterlichen M. aufgebrochen (Franz von Assisi † 1226 mit seiner Nachfolge- u. Leidensmystik, Bonaventura †1274 als bedeutender Theologe der franziskanischen M.; die Dominikaner Meister Eckhart †1328, stark philosophisch-theol. orientiert, Heinrich Seuse †1366 u. Johannes Tauler †1361 gehören alle drei zu den einflußreichen mystisch geprägten Predigern). Eine neue Frauenmystik entstand vom 13. Jh. an. Manche Vertreterinnen erregten, so wie schon Meister Eckhart, wegen ihrer ”Freigeistigkeit“ den Argwohn kirchlicher Lehrinstanzen (Margareta Porète 1310 als Häretikerin verbrannt). Einflußreich u. anerkannt waren Katharina von Siena († 1380), Juliana von Norwich († nach 1460) u. Katharina von Genua († 1510). Nikolaus von Kues († 1464) zeigte, daß die Verbindung von Philosophie, Theologie, Kirchenleitung u. M. in einer Person möglich war. Einflüsse der M. lassen sich auch bei den Reformatoren, besonders bei M. Luther († 1546), nachweisen. Die spanische M. fand ihren Höhepunkt bei Teresa von Avila († 1582) u. Johannes vom Kreuz († 1591). Mystische Elemente prägten den ev. Pietismus wie den kath. Quietismus. Aus der neueren Zeit sind die Karmelitinnen Therese von Lisieux († 1897) u. Edith Stein († 1944) zu nennen. Stark von mystischen Erfahrungen geprägt ist die Theologie bei H. U. von Balthasar († 1988) mit der Leidensmystikerin Adrienne von Speyr († 1967) u. bei K. Rahner († 1984).
   2. Zu den Phänomenen. M. im eigentlichen Sinn ist ein individuelles Geschehen, von gemeinschaftlichen Erlebnissen (Glossolalie, Trance, Massensuggestion) grundlegend verschieden. Mystische Erfahrung kann von außerordentlichen Phänomenen, die z.T. durch die Parapsychologie erklärt werden können (Ekstase, Stigmatisation, ”Elevation “ = körperliches Emporschweben, Erscheinungen), begleitet sein, doch sind diese für M. nicht wesentlich. Die begriffliche Auslegung des Erfahrenen bleibt immer unzureichendes ”Stammeln“, denn die ganz persönliche Erfahrung u. Schau mit ihrer individuellen Gewißheit widersetzen sich einer Vermittlung an andere, sie sind ”unsagbar“. Diese Kommunikationsprobleme zeigen sich in den theol. Abhandlungen zur M. wie in den mystischen Predigten mit der häufigen Verwendung von Paradoxen u. Bildern. Die Askese kann für die Vorbereitung der mystischen Einigung als unerläßlich aufgefaßt werden (besonders betont in der außerchristlichen M.). Reinigung u. Enthaltung dienen nicht der Auslöschung der Persönlichkeit, sondern der Befreiung der menschlichen Seele zu intensiveren Erfahrungen der ”Schau“ oder der ”Gottesgeburt“ in der Seele. Bei dem häufig beschriebenen aufsteigenden Erleuchtungs- u. Einigungsweg verhält sich die Seele ”leidend“, doch können die ”Gaben des Heiligen Geistes“, vor allem die des Rates u.der Stärke, die Mystikerin oder den Mystiker zu entschiedener sozialer u. kirchlicher Aktivität führen.
   3. M. u. Gnadenerfahrung. Die Erfahrung der Transzendenz, der göttlichen Unendlichkeit, kann auch als christliche M. verstanden werden. Christliche M. im eigentlichen Sinn beruht jedoch auf der Erhöhung u. Befreiung der Transzendenzerfahrung durch die Gnade Gottes als erfahrene Selbstmitteilung Gottes . Die mystische Einigung im christlichen Sinn ist eine unvollkommene Andeutung der Anschauung Gottes u. ist wie diese vermittelt durch das Faktum des geschichtlichen ”Abstiegs“ Gottes zu den Menschen in seinemWort, das auch in der Ewigkeit Gottes mit dem Menschen Jesus geeint bleibt. Die eigentliche christlich-mystische Erfahrung ist weder Weltflucht u. Weltverneinung noch Begegnung mit dem unendlichen All, sondern Integration des Weltlichen, Materiellen u. Geschichtlichen in die liebende Begegnung mit dem persönlichen Gott. – Charisma .

Neues Theologisches Wörterbuch. . 2012.

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